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Stay Calm and Learn This

Software sollte ein Gefühl der Ruhe vermitteln. Ich als Benutzer:in sollte wissen, was ich damit tun kann und was nicht. Ich weiss immer, was gerade der Fall ist, wo ich mich befinde und was als nächstes ansteht. Alles geht leicht von der Hand. Ich stecke nicht fest, fühle mich nie verloren oder gestresst.

Wie kommt man da hin? Vielleicht sollte das Produkt einfach und intuitiv zu bedienen sein? Dieser Satz hilft dem Marketing, aber nicht der Produktentwicklung. Hier führen Worte wie einfach oder intuitiv in die Irre. Sie können einer Lösung im Nachhinein zugeschrieben werden, bilden aber kein Prinzip, von dem man klare Handlungsempfehlungen ableiten kann. Der Spielraum für Interpretation ist zu gross.

Wie wäre es damit: Es gibt nichts Einfaches, alles ist gelernt. Alle müssen ein Softwareprodukt erst verstehen und anzuwenden lernen. Sie müssen sich an das Gelernte erinnern, werden Dinge vergessen und wieder neu erlernen. “Lernen ist Arbeit”, wird man hören, “das klingt nach Stress, ich habe zu viel zu tun.” Hier können wir ansetzen. Wir müssen den Lernaufwand reduzieren. Ich möchte drei Aspekte herausgreifen, die diesen Aufwand prägen.

Umfang

Je komplexer das Produkt, umso mehr gibt es zu lernen. Was muss ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich erwarten? Jede Software konfrontiert mich mit verschiedenen Konzepten und Abläufen. Wir sollten deren Zahl so tief wie möglich halten.

Dinge zu vereinfachen, oder besser komplett wegzulassen, ist ein zentrales Thema aller Produktentwicklung, viel wird dazu geschrieben. Das Wort Fokus fällt, wir hören “Do one thing and do it well”1, “The Build Trap”2, “If you aren’t adding 10% back later you haven’t removed enough”3. All dem stimmen wir meist auch zu und doch bleibt die Umsetzung schwierig. Einfacher, klarer, ja – aber wie genau, auf was soll man hinarbeiten? Diese Frage ist zu gross für diesen Text. Ich möchte aber zumindest ein Beispiel für eine Orientierungshilfe anbieten, das zu unserem Thema hier passt.

Eine gute Lösung erscheint im Rückblick offensichtlich und wirkt oft nicht beeindruckend. Sie scheint selbstverständlich, die Leute nicken und sagen, “wie denn sonst”. Selber steht man etwas verloren da. Auf einmal fehlen die komplizierten Ansätze, mit denen man lange Zeit gerungen hatte. Alle Mühen sind für Aussenstehende nicht mehr nachvollziehbar. Gut so. Das Ziel ist, Software so versteh- und beherrschbar wie möglich zu machen. Der lange Weg und ein komplexes Feld dürfen den Blick darauf nicht verstellen. Das ist natürlich alles etwas überspitzt, aber es funktioniert schon: Suchen Sie nach einer Lösung, die nicht beeindruckt, sondern so selbstverständlich wie möglich erscheint. Die Herausforderung sollte in Luft aufgelöst werden, und keinen bleibenden Eindruck hinterlassen.

Zugänglichkeit

Ein Softwareprodukt sollte auf Konventionen zurückgreifen, die ich als Benutzer:in bereits gelernt habe und in meinem Kontext erwarte. Das kann die Interaktion betreffen oder Datenformate und Prozesse. Der Kontext kann das Betriebssystem mit seiner Oberfläche sein. Es kann sich um ein Gerät, meinen Arbeitsort, mein Arbeitsfeld oder meine Kultur handeln. Aber wo findet dann noch Innovation statt? Eine frische, neue Idee funktioniert am besten, wenn sie Raum erhält. Sie gehört ins Zentrum, in den Vordergrund, weil sie hoffentlich auch Unterscheidungsmerkmal ihres Produktes ist. Darum herum sollte alles mit Vertrautem unterfüttert sein.

Wir müssen das Lernen erleichtern, wo immer es geht. Das gelingt, wenn sich nicht ständig alles ändert, wenn sich Gleiches wiederholt. Sowohl Konzepte als auch räumliche und zeitliche Zusammenhänge sollten eindeutig und wiedererkennbar sein. Zum Beispiel: Software sollte mir stets direkt mitteilen, was ich wissen muss. Ich sollte nicht interpretieren oder suchen müssen. Gehen Sie nicht davon aus, dass ich Informationen selber herleite, es kann sein, dass ich Ihre Bestätigung brauche. Verwenden Sie überall die selben Begriffe für die selben Dinge. Verstärken Sie alles, was ich gelernt habe, ich sollte es nie in Frage stellen müssen. Ich will Softwarezustände sofort wieder erkennen können, ohne mich ständig neu zu orientieren. Ich möchte die selben Dinge an den selben Orten wiederfinden, das Verhalten der Software sollte stets vorhersagbar sein.

Normalerweise muss ich als Benutzer:in mehrere Dinge lernen. Wo soll ich anfangen? Was folgt danach? Ich werde entweder keine Anleitung lesen oder Teile davon vergessen, und lerne durch Interaktion mit Ihrem Produkt. Wir lernen oder verstehen Dinge immer in zeitlicher Abfolge und nicht alles auf einen Schlag. Software sollte deshalb meinen Blick, meine Aufmerksamkeit in klaren Schritten vom Einen zum Anderen führen. Erst hier, dann dort – vermeiden Sie alles, was mich davon ablenkt oder verunsichert.

Motivation

Als Steve Jobs 2007 das iPhone vorstellte und den Zuschauer:innen zeigte, wie einfach und toll die Geste slide-to-unlock auf dem Touchdisplay sei (siehe Video), prägte er nicht nur unseren ersten Eindruck seines Produktes. Gutes Marketing lehrt uns die ersten Lektionen, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Hier: Wie das Telefon grundsätzlich funktioniert, wo ich anfangen soll, was slide-to-unlock bedeutet, das bereits als Text und Animation angezeigt wird, wie man das genau macht, was danach kommt, und wie einfach das alles ist, boom! Danach wird alles ein zweites Mal gezeigt. Produktvorstellungen sind Lehrveranstaltungen. Was einmal gelernt ist, erscheint bald einfach. Zum Wort intuitiv greifen wir dann, wenn wir das Lernen nicht bemerken.

Wir lernen schneller und sind resistenter gegenüber Frustration, wenn etwas Spass oder Freude macht. Dazu trägt der Wert bei, den Ihre Software liefert. Die Arbeit, die sie abnimmt. Die Möglichkeiten, die sie eröffnet. Wichtig ist auch, wie genau sie das tut. Schnelles Feedback auf Interaktion, Animation, Design, Typographie und Farbgestaltung erfüllen nicht nur einen funktionalen Zweck. Ist ein Produkt für ein bestimmtes Publikum attraktiv, erhöht das Identifikation und Lernbereitschaft weiter.4 Software ist nicht frei von Mode und Gruppendynamik. Was andere gut finden, wollen wir auch, und nehmen dann gerne Lernaufwand und Rückschläge in Kauf.

Meine Erwartungshaltung gegenüber dem Produkt muss begleitet werden. Es wird Dinge geben, die ich als Benutzer:in nicht verstehe. Ich werde anderer Meinung darüber sein, was das Produkt leisten sollte. Machen Sie Ihre Absichten stets erkennbar. Suchen Sie den Kontakt mit Benutzer:innen, gehen Sie auf Wünsche ein, legen Sie aber offen dar, was Ziel ist und was nicht. Wir sind geduldiger mit Software, wenn der Umfang klar kommuniziert wird, wenn die Ränder nicht ständig in Versprechen zerfasern. Wir sind nachsichtiger, wenn wir die Menschen hinter einem Produkt kennen oder uns als Teil seiner Entwicklungsgeschichte sehen.

Kontext prägt in allen Bereichen unsere Erwartungshaltung. Welche Assoziationen werden mit Ihnen oder Ihrer Marke in Verbindung gebracht? Wer schon bekannt ist für Schwierigkeiten, hat es mit Verbesserungen nicht leicht. Die Leute sind schon von Anfang an zu genervt zum Lernen.

Schluss

Jede Software ist für Benutzer:innen eine Lernerfahrung. Wir kennen diesen Satz in seiner ironischen Färbung. Hinter der Redewendung steckt aber eine Wahrheit: Ein zentraler Aspekt von user experience ist tatsächlich so etwas wie learning experience. Wie lernbar ist Ihr Produkt, wie lernfreudig Ihre Zielgruppe? Genau dieses Zusammenspiel hat Einfluss darauf, ob wir etwas am Ende als einfach bezeichnen, ob Software sogar jene Ruhe ausstrahlt, von der dieser Text handelt. Es sollte auch die Frage beantworten, warum es erfolgreiche Software gibt, die ein schlechtes Interaktionsdesign hat – wahrscheinlich stimmt einfach die Motivation.

 

September, 2021


  1. “Do one thing and do it well” ist Teil der Unix-Philosophie als Richtlinie für Software. Heute stösst man häufig im Zusammenhang mit consumer software darauf, weil ein ähnliches Zitat Steve Jobs zugeschrieben wird: “Do not try to do everything. Do one thing well.” ↩︎

  2. “The Build Trap” ist ein Ausdruck geprägt von Melissa Perri, siehe Blog post und ihr Buch “Escaping the Build Trap”. Dabei geht es nicht bloss um Vereinfachen und Weglassen, sondern allgemein darum, von dem Glauben wegzukommen, dass nur neue Features ein Produkt vorwärts bringen. ↩︎

  3. Ein ähnlicher Satz taucht an verschiedenen Stellen auf, sogar Elon Musk erwähnt ihn in einem Video, in dem er seine 5 Prinzipien der Produktentwicklung erläutert. ↩︎

  4. Die Forschung erwähnt in einem ähnlichen Zusammenhang auch den aesthetic-usability effect. Dieser Effekt führt dazu, dass Benutzer:innen toleranter gegenüber kleineren Problemen in der Benutzbarkeit einer Software sind, wenn sie das Interface visuell ansprechend finden. Dieser Artikel geht dazu ein wenig mehr ins Detail. ↩︎